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Schüler helfen ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen NS-Opfern in Kiew, Minsk und Moskau.

Zarenkissen für NS-Opfer.

Einige Gedanken von Jan Illig zum internationalen Schülertreffen.

Как здорово, что все мы здесь сегодня собрались … Wie klasse, daß wir uns alle heute hier versammelt haben …

(Oleg Mitjajev – Liedermacher; Devise des Sommerseminars „Schüler helfen NS-Opfern in der GUS“ vom 24. bis 29. August 2004 in Odincovo bei Moskau)

Lange Jahre ist in der ehemaligen Sowjetunion über das Schicksal von Staatsbürgern geschwiegen worden, die während des 2. Weltkrieges in die Gewalt der deutschen Besatzer gekommen waren, vor allem Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.

Auch heute, nachdem die zivilen NS-Zwangsarbeiter Anspruch auf deutsche Entschädigungszahlungen haben und als anerkannte NS-Opfer staatliche Vergünstigungen in ihrer Heimat genießen, ist dieses Thema in der GUS mit starken Emotionen besetzt: Warum erhalten nur sie Hilfe aus Deutschland, und nicht auch diejenigen, die mit dem eigenen Leben für den gemeinsamen Sieg einstanden, auch oft alles verloren haben, die Gesundheit, die Familie, Freunde, Haus und Hof?

Nicht unschuldig an diesem emotional aufgeladenen Streit ist das heutige offizielle Deutschland, das nur bereit ist, Verantwortung für diejenigen zu übernehmen, die direkt durch die deutsche Wirtschaft ausgebeutet wurden. Historische Fakten wie „ungerechter Angriffskrieg“ und „verbrannte Erde“ spielten bei der Auswahl und „Kategorisierung“ der zu entschädigenden Personen keine Rolle.

Das ist und bleibt ungerecht.

Um so bemerkenswerter, daß es heute Jugendliche gibt, die sich bei ihrem humanitären Engagement von diesen Auseinandersetzungen nicht leiten lassen. Es sind „unsere“ Jugendlichen, die in Wut gerieten, als ihnen während des sozialpsychologischen Seminars die Unterschiede bei der offiziellen materiellen Begünstigung von NS-Opfern – etwa ehemaligen KZ-Häftlingen, Juden, Zwangsarbeitern der deutschen Industrie und Landwirtschaft – dargestellt wurden.

Das war unfair den ehrenamtlichen Seminarleitern aus der Moskauer Sozialstation „Sostradanije“ gegenüber, sie wollten den Schülern vermitteln, daß es NS-Opfer gibt, die heute mehr, bzw. weniger haben. Diese Information ist wesentlich für die Einteilung der knappen Mittel, welche wir im Rahmen des Projektes „Schüler helfen NS-Opfern in der GUS“ für die Betreuung einzelner alter Menschen zur Verfügung haben. – Doch trotzdem konnte man stolz auf „unsere“ Jugendlichen sein, auf ihre Direktheit und ihre Energie, mit der sie für ihre Überzeugung stritten.

Das Sommerseminar im jetzigen August war zusätzlich ins Programm aufgenommen worden. Ursprünglich sollten die Projektschüler erst am Ende des Projektes zusammentreffen. Doch bereits am Projektstart erwies sich, daß es viele Probleme gab, die sofort gemeinsam besprochen werden mußten.

Das wichtigste hatten wir, nämlich die Bereitschaft der Schüler und Lehrer in Moskau, Minsk und Kiew, etwas tun zu wollen, für die alten NS-Opfer, welche so lange schweigen mußten: „Nicht einmal ein Dankeschön“ wollten sie für ihre Hilfe haben, „weil dies selbstverständlich ist und eine Verpflichtung der Heranwachsenden, den Menschen gegenüber und gegenüber der eigenen Geschichte“, so die Worte aus Minsk.

Doch wo waren am Anfang des Projektes die NS-Opfer, vor allem in Moskau? Und wie könnte die Hilfe für sie aussehen: Geschenke kaufen, Fenster putzen, Fenster putzen, Geschenke kaufen, … und die Biographien aufschreiben für die Dokumentation? Was ist Schülern zuzumuten? Wie sich organisieren? Freizeit? Lange Anfahrtswege! Die erste Aufgabe der Schüler ist es zu lernen!

Das Sommerseminar fand statt und war ein Erfolg, die Probleme wurden zum größten Teil gelöst, es wurde gemeinsam diskutiert, vor und zurück, konkrete Pläne für die Zukunft verabredet. Und um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Die Schüler selbst haben durch Ihre Kritik während des sozialpsychologischen Seminars den Stein ins Rollen gebracht. Der Streit (zwischen Gleichgesinnten) klärte vieles und vor allem das Hauptsächliche, nämlich, welchen Sinn unser Projekt überhaupt haben soll.

Dadurch haben auch die Erwachsenen, die deutschen Projektinitiatoren inbegriffen, verstanden, was von den Jugendlichen zu erwarten ist. Gemeinsam wurde eine Philosophie entwickelt, die weit über die Hilfe für eine Gruppe sozial Benachteiligter – die heute betagten NS-Opfer – hinausgeht: „Moralische Hilfe“! Die Jugendlichen wollen nicht erfahren, wer von „ihren“ NS-Opfern in welcher Höhe Geld aus Deutschland erhalten hat, es geht ihnen darum, Menschen zu helfen, die in Not geraten sind, die allein zu Hause sitzen und denen bisher wenig menschliche Zuneigung zuteil wurde, privat wie von offizieller Seite.

Die Schüler haben sich der NS-Opfer angenommen und ihrer eigenen nationalen Geschichte, aber es geht ihnen nicht nur um die NS-Opfer, es geht ihnen auch ums Prinzip: „Es ist wichtig, was wir machen und daß wir darüber nachdenken, wie es in der Zukunft weitergehen soll.“ oder: „Wir helfen nicht nur den NS-Opfern, sondern vor allem uns selbst, in diesem Leben klarzukommen“. Dies waren Stimmen von 15-jährigen.

Das Sommerseminar vom 23. bis 29. August 2004 in einem Erholungsheim bei Moskau ermöglichte den Schülern, einen eigenen Ansatz zu finden. Die Reise in die russische Hauptstadt gab ihnen ein Gefühl von der Bedeutung ihrer Mission. Den Worten der Projektleiterin in Kiew nach wußten die Schüler, daß sie nicht ins Ferienlager fahren würden, sondern zur „Arbeit“. So waren die Schüler also auf der ersten „Dienstreise“ ihres Lebens.

Es ist ein Verdienst, sowohl des deutschen Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V., der dieses Projekt initiierte, als auch derjenigen, die dieses Projekt als förderwürdig einstuften. Es ist der Verdienst der Pädagogen in Kiew, Moskau und Minsk, der ehrenamtlichen Seminarleiter und engagierten NS-Opfer aus verschiedenen humanitären russischen und deutschen Nichtregierungsorganisationen, daß sie die Seminare moderiert und ihr Wissen an die Jugendlichen weitergegeben haben. Erst hierdurch wurden die Schüler überhaupt in die Lage versetzt, ihre eigenen kognitiven und praktischen Fähigkeiten zu erkennen und für ihr humanitäres Engagement nutzbar zu machen.

Natürlich lebte das Sommerseminar in Odincovo bei Moskau auch von der Begegnung als solcher. In dieser Beziehung war es auch ein Ferienlager mit Volleyballturnier, Rumhängen auf den Gängen und in den Zimmern bis spät in die Nacht, Gitarrensolos, Lagerfeuer, Baden im kalten See, Umtrünken der Betreuer (wenn alle Kinder schliefen), langem Warten auf den Bus, Diskothek, Spaziergang bei Wolkenbruch, Streit und Versöhnung, Tränen des Abschieds.

Vor wenigen Tagen erhielt der Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. drei Briefe, einen aus Moskau, einen aus Kiew und einen aus Minsk:

Obwohl ihnen der Zugriff auf Adressen verweigert wurde und einige NS-Opfer auch ablehnten, ist es den Moskauern nun endlich gelungen, NS-Opfer ausfindig zu machen, die dringend Hilfe benötigen. Auch haben sich an der Schule noch mehr Schüler gefunden, die sich an unserem Projekt beteiligen wollen.

Die Moskauer haben an mehrere Schulen in Russland, der Ukraine und Weißrussland geschrieben und die dortigen Schüler aufgefordert, sich ebenfalls um NS-Opfer in ihrer Umgebung zu kümmern. Warme Kleidung und Bettwäsche für eine ehemalige Zwangsarbeiterin wurde gesammelt.

Am 18. Oktober besuchen die Moskauer Schüler zusammen mit einer weiteren ehemaligen Zwangsarbeiterin, über deren Leben sie übrigens einen Film gedreht haben (der auf einer Ausstellung des Russischen Fonds „Verständigung und Versöhnung“ gezeigt werden wird), verwundete Kinder aus Beslan in einem Moskauer Krankenhaus.

Am 20. Oktober werden im Moskauer Sacharov-Museum an 6 alte Frauen, die während der deutschen Besatzung in einem KZ nahe der russischen Stadt Roslavl interniert waren, Spenden aus Deutschland feierlich überreicht. Ein Moskauer Schüler hatte sich schon vor dem Sommerseminar mit der Geschichte der NS-Zwangsarbeit befaßt und eine eigene Ausstellungstafel angefertigt. Nun präsentiert er seine Ergebnisse im Rahmen des Geschichtsunterrichts unterschiedlicher Klassenstufen.

An die russische Gesellschaft „Memorial“ wurde ein Antrag auf Beteiligung am allrussischen Geschichtswettbewerb „Menschen des 20. Jahrhunderts“ eingereicht.

In Minsk wurden inzwischen die Wohnungen von 20 NS-Opfern winterfest gemacht und Gemüse konserviert. Außerdem hat sich ein Chor gegründet, in dem Schüler und alte Menschen gemeinsam Friedenslieder proben, unter Leitung einer Minsker Dirigentin. Auch die Minsker Fotoausstellung mit Jugend- und aktuellen Portraits der betreuten NS-Opfer wird in Moskau vom Russischen Fonds offiziell präsentiert werden.

Kiew: Auch hier wurden die Besuche der Schüler bei NS-Opfern fortgesetzt. Am 1. Oktober, anläßlich des „Tages des alten Menschen“ veranstalteten die Schüler an ihrer Schule ein Konzert, Lebensmittelpakete wurden ausgegeben. Gleich nach dem Sommerseminar fand an der Schule ein sozialpsychologisches Training für diejenigen Projektschüler statt, die im August nicht nach Moskau kommen konnten: 5 Minuten durch einen Strohhalm atmen, damit man nachfühlen kann, wie schwer das Atmen einem alten Menschen fällt, oder: Süßes mit zugehaltener Nase essen, das vermittelt den Eindruck eines im Alter verlorengegangenen Geschmacksinns.

Ach ja, was bedeutet nun „Zarenkissen für NS-Opfer“? Es sind Kopfkissen, in die Heilkräuter eingenäht werden, von Schülern, damit alte Menschen in der Nacht besser schlafen können. „Zarenkissen für NS-Opfer“, das ist eine Idee, eine Idee der Kinder.

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