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Schüler helfen ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen NS-Opfern in Kiew, Minsk und Moskau.

Sehnsucht nach Anerkennung.

Schüler und Zeitzeugen der NS-Zeit trafen sich in Prochorowka.

Ein Bericht von einem Teilnehmer, der nicht namentlich genannt werden möchte.

Auf dem internationalen KONTAKTE-KOHTAKTbI-Jugendtreffen in Prochorowka begegneten Schülerinnen und Schüler aus vier Ländern Angehörigen der Kriegsgeneration und halfen, eine zukünftige Erholungsstätte für NS-Opfer Instand zu setzen

Schon der Ort ist von Geschichte durchdrungen: Das Sanatorium Zhovten wurde im 19. Jahrhundert erbaut, am Rande des Geländes steht eine uralte Kiefer, unter der einst der Schriftsteller Nikolai Gogol gesessen haben soll. Im wenige hundert Meter entfernten Dorf Prochorowka fahren noch Pferdewagen, ein Storch hat sein Nest auf einem hohen Mast errichtet. Auf dem weitläufigen Areal des Sanatoriums beschallt ein Megaphonlautsprecher die Besucher von morgens bis abends – wie zu Sowjetzeiten.

Teilnehmer des Sommercamps

Schüler, die am aktivsten beteiligt waren
Fotos: Dmitri Stratievski.

Hier, am Dnjepr-Ufer, 150 Kilometer von Kiew entfernt, trafen sich vom 26. Juli bis zum 4. August 2005 rund 40 Schülerinnen und Schüler aus Kiew, Moskau, Minsk und Berlin. Eingeladen hatte sie der KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V., mit Förderung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.

Dazu kamen sieben Zeugen und Opfer des Zweiten Weltkriegs – aus Deutschland Ilse Weimann und der ehemalige Wehrmachtsoffizier Hans Richter. Er aufgewachsen in der damals von Nazi-Deutschland annektierten Tschechoslowakei, sie in Berlin. Das Kriegsende erlebte sie, „ausgebombt“, in einem Keller, eine einjährige Tochter im Arm. Hans Richter war damals längst in Kriegsgefangenschaft, im März 1945 war er zu den amerikanischen Truppen übergelaufen.

Aus der Ukraine sind drei ehemalige Zwangsarbeiterinnen nach Prochorowka gereist, alle drei als junge Mädchen deportiert. Julia Michailowna Malej musste im besetzten Polen Zwangsarbeit leisten. Olga Iwanowna Bilyk und Soya Iwanowna Kriwitsch schufteten in deutschen Munitionsfabriken, stellten in endlosen Nachtschichten Patronen her, mit denen Wehrmachtssoldaten wie Hans Richter auf Soldaten der Roten Armee schossen – auf Soldaten wie Wladimir Awramowitsch Reiman und Gerz Moisejewitsch Rogowoj, die ebenfalls eine Woche in Prochorowka verbrachten. Beide sind in jüdischen Familien aufgewachsen, beide waren Oberste in der Sowjetarmee – und beide begegneten im Sanatorium Zhovten nach über 60 Jahren zum ersten mal wieder einem Mann, der damals, im Ostfeldzug, die Uniform der Wehrmacht trug.

Gruppenbild mit Hans Richter, Julia Michailowna Malej, Ilse Weimann

Einige Seminarteilnehmer (von links): Soya Iwanowna Kriwitssch, Hans Richter, Julia Michailowna Malej, Olga Iwanowna Bilyk, Ilse Weimann.

An mehreren Tagen erzählten die sieben vor den Schülern ihre Lebensgeschichten – an einem Nachmittag in Anwesenheit eines weiteren Kriegsüberlebenden aus Kiew: Vassily Michailowsky, der als Kind durch einen Glücksfall dem Massaker in Babi Jar bei Kiew entgangen ist, das sich Ende September dieses Jahres zum 64sten mal jährt.

Die Podiumsgespräche mit den Überlebenden und Zeitzeugen waren dabei gleichermaßen eine Begegnung der Generationen und der Zeitzeugen untereinander. Die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen, Rotarmisten und die beiden deutschen Kriegszeugen stellten sich Fragen, mitunter aufgebracht. „Was haben sie gewusst von den Verbrechen der Wehrmacht?“ – „Was dachten sie und die Menschen um sie herum, als Hitler der Sowjetunion 1941 den Krieg erklärte?“ Vor allem aber sprachen sie über ihre persönlichen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse.

Gruppenbild von Berliner und ukrainischen Seminarteilnehmern

Herzliche Begegnungen prägten das Treffen.

Die ehemaligen Rotarmisten berichteten von ihrem Überlebenskampf an der Front und von ihrer Angst vor dem zunehmenden Antisemitismus in der Ukraine.

Hans Richter erzählte, wie er 1941 beobachtete, wie SS-Männer ein jüdisches Ehepaar aus der Straßenbahn stießen, bei voller Fahrt. Ilse Weimann erinnerte sich, wie sie in Berlin beinahe von Rotarmisten vergewaltigt wurde – ein Schicksal, das sie mit der ehemaligen Zwangsarbeiterin Olga Iwanowna Bilyk teilt, die nach Kriegsende wie viele Zwangsarbeiterinnen die Rotarmisten fürchtete und im KGB-Verhör Auskunft über ihre Arbeit in Deutschland geben musste.

Im Wechsel der Erzählungen entstand ein komplexes Bild biografischer und historischer Verwicklungen, und es wurde deutlich: In der persönlichen Begegnung mag so etwas wie Vergebung und Versöhnung möglich und wünschenswert sein – die Geschichte selbst, der deutsche Vernichtungskrieg, bleibt unverzeihlich.

Die Schülerinnen und Schüler hörten zu, interessiert vor allem an den individuellen Lebensgeschichten. So traf eine Generation, die noch unmittelbar mit den Fragen persönlicher Schuld zu tun hat, auf eine Generation von Jugendlichen, die sich jenseits der abstrakten Rede von „historischer Verantwortung“ dem Thema aus einem intuitiven Bedürfnis nach Anteilnahme nähert – aus Neugier und mit dem Wunsch, etwas zu tun.

Und die Schülerinnen und Schüler taten auch etwas. Nicht nur, dass sie ihr Interesse an den Schicksalen der anwesenden Zeitzeugen zeigten. Sie begannen auch, das heruntergekommene Sanatorium Instand zu setzen. Sie weißten die Wände, schnitten Hecken und jäteten Unkraut, strichen die Geländer und bauten in der Nähe des Speisesaals einen Ofen, damit auch gekocht werden kann, wenn, wie nicht selten, der Strom ausfällt. In Zukunft sollen im Sanatorium Zhovten regelmäßig ehemalige ZwangsarbeiterInnen und andere Opfer des Nationalsozialismus zusammenkommen oder sich einfach ein paar Wochen lang erholen – mit finanzieller Förderung aus Deutschland.

Es ist eben nicht nur das materielle Elend der Überlebenden, dem der KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. und andere Organisationen vor Ort beizukommen versuchen. Es geht auch um eine psychosoziale Betreuung. Viele ehemalige ZwangsarbeiterInnen, Soldaten und Kriegsgefangene leben allein, ohne viel Anteilnahme, und oft ohne die Hilfe, die sie dringend benötigen – und sei es, um genügend Essensvorräte für den Winter zu beschaffen.

Im Rahmen des Projektes „Schüler helfen NS-Opfern“ ist eine solche Betreuung im Alltag bereits im vergangenen Jahr angelaufen – in Kiew, Moskau und in Minsk, direkt vor Ort. So besucht etwa Andrej, 16 Jahre alt aus Kiew, seit rund neun Monaten regelmäßig Soya Iwanowna Kriwitsch, unterhält sich mit ihr, hilft ihr beim Einkaufen, beim Abwasch, beim Aufräumen.

Anstehen vor dem Speisesaal

Mittagspause.

Nervös sei er gewesen, das erste Mal, sagt Andrej. Von draußen hörte er Soya Kriwitschs Hund. Dann öffnete sie die Tür, unsicher stand sie da in ihrer Wohnung mit den gelb überstrichenen Tapeten. Andrej erzählte, dass er Logistik studieren will. Sie erzählte von ihrem Sohn, der in Israel lebt. Sie erzählte nichts von damals: von ihrer Zeit in Deutschland. Andrej fragte nicht. Er traute sich nicht. Mittlerweile sind sie wie Großmutter und Enkel. Als sie beim Treffen im Sanatorium Zhovten von ihrer Deportation berichtet, von den Nächten in der Munitionsfabrik, vom Hunger und den Schlägen, hört Andrej zum ersten Mal ihre Lebensgeschichte.

Umgekehrt ist es für die drei ehemaligen Zwangsarbeiterinnen mitunter das erste Mal, dass sie frei von Angst über die Jahre in Deutschland sprechen können – und dass ihr Leid anerkannt wird. Zu Sowjetzeiten galten sie als Vaterlandsverräterinnen, denn sie hatten „für den Feind gearbeitet“. Sie beschwiegen ihre Geschichte. Dass ihnen nun nicht nur Angehörige ihrer eigenen Generation aus der Ukraine und Deutschland zuhören, sondern auch die angereisten Jugendlichen, ist für viele eine sichtliche Befreiung. Es ist die Jugend, in die sie dabei alle Hoffnungen setzen: auf eine Zukunft, in der nicht wieder geschieht, was sie durchlitten haben.

Fußballfreundschaftsspiel

Freundschaftsspiel.

Für die Jugendlichen selbst begann diese Zukunft schon vor Ort: im gegenseitigen Kennenlernen, beim Singen, beim Fußballspielen, über Sprachgrenzen hinweg. Am vorletzten Abend stellten sie sich gegenseitig ihre Länder vor. Auch die Deutschen sangen ihre Nationalhymne – gefolgt von „Alle meine Entchen“. Die Stimmung ist gelöst, wie auch in den abendlichen Runden, in denen sich die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen mit den ehemaligen Rotarmisten und den Gästen aus Deutschland an einen Tisch setzen und miteinander anstoßen. Morgens gehen sie gemeinsam schwimmen, im Dnjepr, dem Fluß, an dem rund 80 Kilometer weiter, bei Perejaslawl, die große Schlacht um Kiew tobte, bevor die Stadt am 19. September 1941 an die Deutschen fiel.

In einer zum Museum umgebauten Kirche in Perejaslawl ist diese Schlacht in einem riesigen Wandgemälde dokumentiert. Stumm stehen die Schülerinnen und Schüler bei ihrem Besuch im ehemaligen Altarraum der Kirche, betrachten die wirklichkeitsgetreue Darstellung des Krieges.

Doch auch draußen ist die Vergangenheit überall präsent: Hier und da sind noch Einschusslöcher an den Fassaden zu sehen. Am Ortseingang von Perejaslawl stehen alte Artilleriegeschütze. Die Geschäfte und Wohnhäuser versetzen den Besucher zurück in die Sowjetzeit. Vom westlichen Schick, wie ihn die Schülerinnen und Schüler zwei Tage zuvor in Kiew erlebt haben, ist hier nichts zu sehen. Keine teuren Autos, keine teuren Boutiquen, keine teuren Hotels und Bars.

Denkmal für minderjährige Zwangsarbeiter in der Stadt Perejaslaw-Chmelnickij

Denkmal für minderjährige Zwangsarbeiter in der Stadt Perejaslaw-Chmelnickij bei Kiew. Das Geld für die Errichtung des Denkmals haben Stadtbewohner gespendet. Links im Bild: die ehemalige Zwangsarbeiterin Juli Malej.

So lernten die Jugendlichen aus Ost und West ein Land im Umbruch kennen – mit all seinen Facetten, mit seiner älteren und jüngeren Geschichte, und auch mit den in die Zukunft weisenden Fragen der aktuellen Politik.

Am letzten Tag spielen sie eine Europaparlamentsdebatte mit verteilten Rollen: Soll die Ukraine in die EU aufgenommen werden? Die Abstimmung am Ende ergibt ein knappes Nein. Auch die ehemalige Zwangsarbeiterin Julia Michailowna Malej hat an der Debatte teilgenommen. Sie ist empört über das Ergebnis. Sie liebe ihr Land, sagt sie, und: „Ich wünsche mir doch nur, dass wir alle in Frieden zusammenleben.“

Schülerinnen und Schüler diskutieren mit Zeugen und Opfern der NS-Zeit über Europa

Europadebatte: Soll die Ukraine in die EU aufgenommen werden?

Einen Moment lang ist es still. Einige nicken, andere stimmen in Gedanken zu: die Schülerinnen und Schüler, Ilse Weimann und Hans Richter aus Berlin, die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen, die früheren Rotarmisten. „Dass wir alle in Frieden zusammenleben“ Das wollen sie alle – und vielleicht sind sie in den vergangenen Tagen gemeinsam einen größeren Schritt in diese Richtung gegangen, als es je eine Parlaments-Entscheidung leisten könnte.

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