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Schüler helfen ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen NS-Opfern in Kiew, Minsk und Moskau.

Erinnerung, Versöhnung und Verständigung.

Schüler und Zwangsarbeiter singen Lieder über den Frieden.

Eine Betrachtung von Jan Illig.

Minsk, den 2. Mai 2005.

Vergangen sind die Zeiten organisierter Freundschaftsreisen von und in die Länder der ehemaligen Sowjetunion.

Neben schlechter Infrastruktur und fehlender Finanzen sind daran, gerade auf deutscher Seite, tiefsitzende Vorurteile gegenüber dem Osten, Sprachbarrieren und Ängste vor dem Fremden Schuld. Da nützt es wenig, daß der Osten, auch das viel kritisierte Weißrussland, seine Tore nach Westen mittlerweile recht weit offen hält.

Was bedeutet ein unterentwickelter zivilgesellschaftlicher Austausch zwischen Deutschland und der GUS für die Verständigung und Versöhnung 60 Jahre nach Ende des letzten großen europäischen Krieges?

Was wird es zur Folge haben, daß viele Europäer, anstatt selbst Initiative zu ergreifen, den direkten Kontakt mit dem Osten vor allem ihren Regierungen, Medien- und Wirtschaftsvertretern überlassen?

Auch wenn Schüler auf beiden Seiten der östlichen Grenzen der Europäischen Union mittels Lehrbüchern und auf Gedenkveranstaltungen, bei Besuchen ehemaliger Konzentrationslager vernunftmäßig Geschichte aufarbeiten, können sie Geschichte nicht verstehen lernen – sie lernen eigentlich doch parallel, es mangelt an emotionalen Berührungspunkten, denn man kann aus der Geschichte nicht mehr als Fakten lernen, wenn es keine Begegnungen zwischen den Geschichtsträgern, also zwischen den Völkern, gibt.

Fakten werden vergessen, irgendwann, wenn sie nicht eine situative Rückkoppelung im Gehirn erfahren. Und so bot die Beteiligung von Schülern aus Minsk und Berlin am Internationalen Schul- und Jugendwettbewerb „Europa für den Frieden – Frieden für Europa“, finanziert durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, eine einmalige Gelegenheit.

Von Anfang an enthielt die Projektidee von KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. ein unkalkulierbares Risiko – kalkulierbar war lediglich der Verlauf der inhaltlichen Arbeit, das Sammeln und die Interpretation von deutschen bzw. russischen Friedensliedern durch die Minsker und Berliner Schüler sowie die Finanzen.

Nicht abschätzbar war hingegen das künstlerische Resultat, die Interaktion von Jugendlichen aus zwei Ländern und ehemaliger Zwangsarbeiter in einem einzigen Chor, nachdem monatelang getrennt geprobt wurde.

Auch das private Zusammentreffen der deutschen und weißrussischen Schüler sowie die persönliche Begegnung der deutschen Jugendlichen, einzeln und ohne Sprachkenntnis, jeweils bei einem der alten Menschen zu Hause, war ein Experiment, das von unserer Projektpartnerin, Ljudmila Ivanovna Tschenikova aus der 137. Minsker Schule, gewagt wurde.

Auch wenn im Hintergrund viele Erwachsene den Programmrahmen abgesteckt, Chorauftritte organisiert, Jugendlichen, Eltern und ehemaligen Zwangsarbeitern die Berührungsängste genommen, die Finanzen kalkuliert, die gemeinsamen Proben methodisch vorbereitet, Promotion betrieben und ihr gesamtes Herzblut investiert haben, konnte einhundertprozentige Sicherheit für das Gelingen des kurzen Treffens nicht gegeben werden.

Das Resultat der ersten Minsker-Berliner Schülerbegegnung war ein Erfolg, die Begegnung zwischen Alt und Jung aus zwei Ländern am Vorabend des 8. Mai bescherte wirkliches Aufeinanderzugehen, Verständigung und Versöhnung.

Dieser Erfolg hat nicht unbedingt mit dem geplanten Rahmenprogramm zu tun, der Aufmerksamkeit der Medien oder den öffentlichkeitswirksamen und gelungenen Chorauftritten in vier Minsker Großbetrieben, es war ab einem bestimmten Zeitpunkt die Spontaneität, der Selbstlauf des Treffens, bei dem die direkt sichtbare organisatorisch-pädagogische Einflußnahme immer mehr in den Hintergrund treten durfte.

Jeden Abend trafen sich die Jugendlichen allein, ein Mädchen aus Berlin, das sich in unserer unbeheizten Unterkunft erkältet hatte, wurde zu Hause bei einer Chorkollegin, der ehemaligen Zwangsarbeiterin Anna Gurjewitsch, gesundgepflegt.

Frau Gurjewitsch hätte dies selbst sicher nie erwartet – sie, ein Opfer des deutschen Vernichtungskrieges, hat bei sich zu Hause ein deutsches Kind, so selbstverständlich, ohne Pathos, unbemerkt, als ob nie etwas gewesen wäre, ein deutsches Mädchen, mit dem sie gemeinsam in einem Chor tätig war und das gepflegt werden mußte, weil es krank war.

Jeder der Berliner Jugendlichen wurde an einem Nachmittag von einem der ehemaligen Zwangsarbeiter aus dem Chor in häuslicher Atmosphäre verwöhnt und auch einen Tag lang von den Eltern gastgebender Minsker Schüler – ohne daß die Weißrussen Deutsch oder die Deutschen Russisch perfekt beherrschten.

Am letzten Abend zogen unsere weißrussischen und deutschen Jugendlichen mit Fackeln, gemeinsam deutsche und russische Friedenslieder singend, auf die Hauptstraße von Minsk – unerwartet und froh. Dies war vollkommen spontan.

Wir, die Betreuer und Organisatoren der Schülerbegegnung, haben erst später die Bedeutung dieser Initiative erfaßt, die einzigartige und festliche Atmosphäre, die die Schüler selbst geschaffen hatten. Aus meiner Sicht kann es eine ehrlichere Verständigung und Versöhnung nicht geben.

Es bleibt neben der Verantwortung, auch für den Rückbesuch der Minsker Jugendlichen und die gemeinsamen Chorauftritte in Berlin den bestmöglichen Rahmen zu schaffen, jedoch noch eine weitere Aufgabe, von deren Lösung sicherlich der Erfolg weiterer internationale Begegnungen von Jugendlichen abhängen kann.

Dies betrifft Lehrer aus unterschiedlichen Ländern und Bildungssystemen: den pädagogischen Austausch.

Die beschriebene Begegnung, die von mir, gerade wegen ihrer Offenheit und Spontaneität, als sehr positiv eingeschätzt wird, erregte seitens einzelner leider auch Skepsis.

Ab irgendeinem Zeitpunkt, vielleicht nach dem Tag zu Hause bei weißrussischen Schülern oder auch erst nach den ersten erfolgreich absolvierten Chorauftritten, wurde klar, daß die Schüler sich nicht mehr unter „einhundertprozentiger Kontrolle“ der Lehrer befanden, ja, nicht mehr befinden konnten.

Die Erkenntnis, daß Jugendliche aus gesetzten, oft althergebrachten Normen plötzlich ausbrechen können, anders sind, als vermutet, daß man oft erst im Nachhinein intervenieren kann, moderieren und aufklären, daß traditionelle pädagogische Wertvorstellungen sich unter den Bedingungen völlig veränderter gesellschaftlicher Umstände in der Gegenwart plötzlich relativieren können, kann bitter sein.

Auf der anderen Seite ist es natürlich Verpflichtung, sich zu fügen, anzupassen, durchzuhalten, etwas zu essen, was einem nicht schmeckt, wenn man in einem anderen Land ist, dessen Kultur man kennenlernen möchte.

Es ist eine Gradwanderung, die pädagogische Betreuer hier leisten müssen, denn internationale Jugendtreffen sind ohne sie nicht möglich, auch Impulse zum selbstbestimmten humanitären Engagement von Jugendlichen müssen im Endeffekt von ihnen kommen.

Aus diesen Erfahrungen heraus ergibt sich, meiner Meinung nach, die Notwendigkeit, bezugnehmend auf unser Jugendaustauschprojekt, aber auch in Bezug auf den Internationalen Jugend- und Schülerwettbewerb als Ganzes, den Pädagogen und Betreuern aus den beteiligten, zum Teil sehr unterschiedlichen Ländern, ein Diskussionsforum zu bieten.

Vielleicht könnte dies durch eine internationale Pädagogenkonferenz in einem der Länder der ehemaligen Sowjetunion geschehen, die in besonders starkem Maße von den Transformationsprozessen der Gegenwart betroffen sind.

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