Direkt zum Navigationsmenü.


Schüler helfen ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen NS-Opfern in Kiew, Minsk und Moskau.

„Meine Hoffnung ist auf Verstehen und die Zukunft gerichtet“.

Als Zeitzeugin unterwegs mit deutschen, russischen, weißrussischen und ukrainischen Schülern.

Über ihre Eindrücke und Erlebnisse berichtet Ilse Weimann.

Berlin, im August 2005.

Wir sind auf Einladung des Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. vom 28. Juli bis 4. August 2005 zu einem Treffen mit Schülern und ihren Lehrern aus Moskau, Kiew, Minsk und Berlin sowie Zeitzeugen aus der Ukraine und Berlin in die Ukraine gereist.

Für Deutschland und aus Berlin dabei: Herr Richter als ehemaliger Offizier im Krieg gegen die Sowjetunion und ich, Ilse Weimann; aus der Ukraine: drei ehemalige Offiziere jüdischer Herkunft und drei Zwangsarbeiterinnen.

Es war ein Projekt „Schüler helfen NS-Opfern in der GUS“. Anlässlich eines Sommerseminars und Workcamps in der Ukraine 2005, gefördert durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die F.-C.-Flickstiftung, die Eider-Stiftung und die Hans-Böckler-Stiftung.

Der Leiter dieses Treffens war Jan Illig von KONTAKTE-KOHTAKTbI, es begleitete uns eine Dolmetscherin, Frau Justina Blüml, am Ort erwarteten uns Dimitri und seine Frau als Dolmetscher und Eike, die Jan Illig zur Seite stand; sie sprach auch Russisch. Insgesamt waren wir 65 Teilnehmer.

Die Unterkunft fanden wir in einem ehemaligen Sanatorium, in einem kleinen Dorf, nahe des Riesenflusses Dnjepr, mitten im Wald. Daselbst waren verstreut kleine Häuser, ein Wirtschaftsbereich und ein Sportplatz.

Wir bestiegen in Tegel ein ukrainisches Flugzeug um 18.30 Uhr zu dritt, Herr Richter, Frau Blüml und ich; nach ca. zwei Stunden erreichten wir Kiew (eine Stunde Zeitverschiebung).

Die Einreiseformalitäten wurden mit Hindernis „Geige von Herrn Richter“ gestört – es musste ein Experte her, um die genauen Merkmale des Instruments zu dokumentieren. Und das dauerte – womöglich würde anstatt der schon etwas angejahrten Geige eine Stradivari ausgeführt bei der Rückreise?!

Ok, da wir ja schon lange erwartet wurden, ging es per Bus rasant durch das nächtliche Land zum 130 Kilometer entfernten Ziel. Herzlich erwartet am Ort mit üppig gedecktem Tisch und reichlich zu trinken, gingen wir gestärkt und voller Erwartung zu Bett.

Am frühen Morgen marschierten wir durch den Wald zum gastlichen Haus zum Frühstück: dicken Brei, Boulette, Brot, Butter, Milchsuppe und Fruchtgetränk gab es, alles schien sehr magenfreundlich ausgerichtet zu sein.

Mittags begannen das Kennenlernen, Interviews und die Befragung Einzelner durch die Anwesenden – Dolmetscher übersetzten.

Ein Journalist einer ukrainischen Zeitung kam auf mich zu und sagte zu mir: „Ihr Land hat meinem Volk unendlich Leid zugefügt – wussten Sie das?“

Ich bekam Bauchschmerzen – hatte ich ja schon zu Hause so etwas befürchtet, – was passiert und wie reagiere ich als Deutsche bei Schuldzuweisungen, dass Hitler den Krieg begonnen hatte.

Ich erklärte ihm, dass ich hergekommen bin, um darüber zu reden – nichts zu vergessen – jeder Einzelne hatte sein grausames Schicksal alleine zu tragen – , das ist die Tragödie auf beiden Seiten, – und ich habe meine eigene persönliche Geschichte aus diesem Wahnsinn zu bewältigen.

Meine Hoffnung ist auf Verstehen und die Zukunft gerichtet, dass es ein Miteinander der Völkergemeinschaft geben möge. Ich habe erlebt, dass dies als roter Faden durch die ganze Zeit der Veranstaltung blieb …

Meine Schilderungen über die Endphase des schrecklichen 2. Weltkrieges führten auch zu gezielten Fragen an mich – ich las einige Passagen aus meinem Tagebuch, von April bis September 1945 vor, Dimitri übersetzte ins Russische/Ukrainische.

Zum Schluss äußerte ich den Wunsch, am Montag gemeinsam mit Teilnehmern zu kochen. Auf vielen Gesichtern sah ich ein Lächeln und Zustimmung – das war Balsam für meine Seele. Spontan übergab ich an die Lehrerin aus Minsk, der Ludmila, ein Mitbringsel über Deutschland als Bildband.

Ich erlitt die geteilten Erinnerungen auch der anderen Zeitzeugen. Daraus erwuchs gegenseitiges Verstehen und Respekt für eine Basis, an eine hoffnungsvolle Zukunft miteinander zu bauen. Jeder hat leidvoll seine Geschichte erzählt, aber zum Schluss siegte der Wunsch nach Frieden miteinander, weil Krieg niemals die Probleme dieser Welt löst – deshalb war durch dieses Forum schon der Zweck der Reise erfüllt.

Jan Illig und seine Frau Ute, die ihn auch tatkräftig unterstütze, hatten ein Rahmenprogramm erstellt; nachfolgend will ich die Detail beleuchten – sie waren das Salz in der Suppe.

Die Jugendlichen der Schulen aus Minsk, Kiew, Moskau und der Berliner Waldorfschule erläuterten am ersten Tag anhand von Schautafeln ihr Engagement, für die ehemaligen Zwangsarbeiter praktische Arbeit und Hilfen zu leisten. Besonders wichtig und willkommen waren sie in den ländlichen Regionen, weil sie mithalfen, die Bedürfnisse des Lebens zu bewältigen, wie Einkaufen, Arztbesuche, Haushaltshilfe und vieles andere mehr.

Die Schüler nutzten die Zeit, um die besprochenen Arbeiten auf dem Gelände zu erledigen, wie Zäune errichten und streichen, Zimmer tapezieren, einen Ersatz-Steinherd für die Küche draußen zu errichten, weil es ja des öfteren Stromausfall gab, und vieles mehr.

Uns Neuankömmlingen zeigte Ute die Besonderheiten auf dem weitläufigen Gelände, auch ein Denkmal für den Begründer dieses Sanatoriums.

Am nächsten Morgen ging es per Bus nach Kiew.

Eine Stadtführung eröffnete uns den Blick für die wunderschöne grüne Stadt; Museumsbesuche inbegriffen.

Haften geblieben sind die Eindrücke am Gründerdenkmal der Stadt, direkt am Ufer des Dnepr. Es ist ein beliebter Treffpunkt für Hochzeitspärchen, schön anzusehen die vielen jungen Paare mit ihren Gästen in Grüppchen, sie warfen ihre Brautsträuße auf den Sockel des Denkmals.

In der Stadt sind mir besonders die sehr schick, nach der neuesten Mode gekleideten Frauen aufgefallen, eine erfreulicher Anblick im Gegensatz zu vielen deutschen Damen, bei denen die „Schlampigkeit“ als besonderer Schick empfunden wird.

Unübersehbar ragte das Riesendenkmal „Muter Heimat“ auf dem weiten Areal, mit Monumenten zur Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg von 1941–1945“. Ein ebenso pompöses Monument, wie der riesige Bogen, der der Vereinigung zwischen der Ukraine und Russland gewidmet ist, 1982 errichtet, hat nach neun Jahren „das Zeitliche gesegnet“, wie der Stadtführer schreibt.

Mit Tatjana, unserer Stadtführerin, perfekt deutsch sprechend, hatten wir ganz dringend vor, einen „Mixer“ zu erwerben. Das war eine besondere Geschichte, die ich uns eingebrockt hatte; er sollte mir in der Küche helfen.

Wir kauften das Ding in einem Superkaufhaus, hatten dadurch allerdings die Zeit vertrödelt, um rechtzeitig zu einer Flussfahrt an Bord zu sein – gerade noch so kamen wir außer Atem zum Einstieg an Bord zurecht – plumps machte es bei uns: Tatjana, Justina, Ilse und dem stinksauren Herrn Richter („Bla, bla, bla“, war mein Kommentar auf sein Motzen, ziemlich despektierlich von mir, aber dem ging seinerseits viel „Motzen“ voraus und hinterher, meist bei kleinsten Organisationsdefiziten.) Von Tatjana verabschiedete ich mich, nicht ohne von ihr zu einem umfassenderen Besuch in Kiew eingeladen worden zu sein.

An Bord überrascht uns eine Folklore-Gruppe mit Gesang und Tanz in typischer Landestracht, die Jugend tanzte gemeinsam – ich habe es sehr genossen. Vom Wasser aus hatten wir die Ufer der Stadt mit ihrer spektakulären Architektur vor Augen, wir schipperten gemütlich dahin.

Abgerundet wurde der herrliche Ausflug mit einem Mittagessen in einem wirklich guten, historischen Restaurant der Stadt, sehr gediegen war die Einrichtung und gemütlich die Ausstattung. Es wurde Salat, Fisch und Dessert gereicht, dazu Getränke nach Wahl.

Auf der Heimfahrt begleiteten uns Volkslieder der Schüler, so dass die Zeit schnell bis zur Ankunft im „Wald-Sanatorium" verging, Fahrtzeit ca. zwei Stunden, meist auf Bundesstraßen, aber auch auf Schleichwegen durch verschlafene Dörfer.

Der Sonntag war für meine Vorbereitungen zum Kochen mit Teilnehmern am Montag vorbehalten. In einem entfernten Dorf gab es einen Basar; dort würden wir alle Zutaten für ein Mittagessen einkaufen können, erfuhr ich von der Küchenleiterin. Sie war eine sehr patente Hilfe für mein Abenteuer Kochen in fremder Umgebung unter einfachsten Voraussetzungen.

Spät am Abend erlebten wir eine besondere kulinarische Überraschung: Wir waren zu einem historischen, von der Zarenzeit herstammendem Schaschlik vom Holzkohlengrill eingeladen!! Von weitem sahen wir schon Feuer lodern, die Funken sprühten hoch vom Holzstoß bis zu den Nadelbäumen – ich hatte Angst, dachte an die Waldbrände in Portugal; ich wurde beruhigt. Sie hätten Sand vorsorglich bereitet, und sie kennen sich mit Lagerfeuer aus, na gut. Gottlob ist ja auch nichts passiert.

Schaschlik hatten die Einheimischen vorbereitet: Fleisch in Stücke geschnitten und dann in Schmand-Zwiebel-Gewürz eingelegt, wurden von den ukrainischen Zeitzeugen auf lange Eisenspieße gesteckt. Mir kam das wie ein Ritual vor.

Emsige Helfer fütterten unterdessen immer wieder das Feuer mit trockenem Fichtenholz für die benötigte glühende Holzkohle. Als das geglückt war, wurden zwei Balken quer darüber gelegt, mit Wasser besprüht, damit sie nicht auch verkohlen – darüber wurden die Spieße gelegt und durch die darunter glühende Kohle gebraten.

Wir hatten an einem langen Tisch Platz genommen, der reichlich mit Brot, Getränken und kleinen Beilagen gedeckt war und natürlich mit dem nötigen Geschirr.

Muntere Reden und Toasts wurden ausgebracht zu wiederholten Malen, auf die letzten aktuellen Ereignisse, den oder die betreffend, sie füllten die Erwartung auf das Neue, auf Zaren-Schaschlik aus.

Es war auch einfach eine laue Sommernacht, sehr romantisch, in Übereinkunft mit Menschen, die einem sehr sympathisch und mit Warmherzigkeit begegneten.

Wir wurden laufend mit Fleischstückchen von den Spezialisten versorgt, ebenso mit Getränken, es wurde spät in der Nacht bei den erwachsenen Teilnehmern; die Schüler waren nicht dabei, vorsorglich sicher auch wegen des Alkoholkonsums; die Toasts und Komplimente wurden natürlich auch mit Wodka oder Wein begossen – nur ich blieb bei Fruchtsaft.

Für den Ausflug zum Einkaufen hatte Jan Illig den Direktor des Sanatoriums mit seinem Auto überreden können, Justina begleitete uns beide als Dolmetscherin. Es war ein sonnendurchfluteter Bilderbuchtag – gefühlte Temperatur 45 Grad.

Am Ziel angekommen, bekamen wir kompetente Unterstützung durch den Manager des Basars – vor allem hat er genau abschätzen können, wo wir das beste Fleisch, frisches Gemüse, Obst, Schmand und anderes erwerben konnten Die Bauersleute waren hocherfreut über den Großeinkauf. Für alles investierte ich persönlich umgerechnet 100 Euro, damit habe ich 65 Teilnehmer am Montag bewirtet.

Justina und die beiden Herren hatten schließlich die gute Idee, in ein Cafè einzukehren; sie zogen los, frischen Kuchen zu finden – ich erholte mich unterdessen in einem klimatisierten Raum, hatte Spaß an einer Schwalbe, die aus- und einflog; natürlich hatte sie auch ihr Nest ganz oben an der Decke des Cafés, – bringt Glück, meinte Justina.

Der Manager hatte sich mit Justina verständigt, dass er uns nun auch noch zu seinem Haus fahren möchte, er hätte frisch geschleuderten Bienenhonig für uns. Das gefiel mir besonders gut, konnte ich doch somit noch mehr an Köstlichkeiten aus Küche und Keller uns allen darbieten.

Erst nach unserem Einkauf konnte ich konkret festlegen, was ich für ein Menü bieten würde. Und dann bat ich die Lehrerinnen, ihre Schüler für die Mithilfe in der Küche zu motivieren – 10 bis 12 junge Leute könnte ich schon gerne in der Küche zum Schnibbeln von Gemüse, Fleisch und Obst einsetzen – wobei mich schon vorher einige gefragt hatten, ob sie mithelfen könnten.

Am Montag besetzte ich das Wirtschaftshaus samt Küche und die fleißigen Helfer ihre Arbeitstische in mehreren Räumen – die ukrainische Küchenleiterin hatte einen Trauerfall, sie war auch deshalb abwesend, nur einige ihrer Küchenhelferinnen standen uns für alle Fälle zur Verfügung.

Um 14 Uhr musste das Essen gereicht werden mit Unterstützung des Hauspersonals – also haben wir alle in die Hände gespuckt und alles geschafft –im Küchenraum war eine mörderische Hitze durch die Kochflächen und Bratöfen, wie üblich. Das kannte ich ja und habe überlebt, wenn auch wie aus dem Wasser gezogen und mit hochrotem Gesicht; das Experiment war mir geglückt, auch vor allem mit Hilfe von Justina und auch Eike, die alles koordiniert und sprachlich in die Reihe gebracht hat.

Folgendes haben wir geboten: Gemüsesalat mit Dressing, Mohrrüben-Creme mit Schmand, im Ofen gebackenen Kohl mit Fleischwürfeln und Salzkartoffeln, Obst mit Honig übergossen – die Tische habe ich mit Blüten dekoriert.

Ich wurde geehrt und bedankt, mit einer wunderschönen Holzkette beschenkt und bekam von einem jungen Schüler sogar einen Handkuss und Küsschen rechts und links bei der Umarmung und einen Bildband über Minsk – mir war unglaublich warm ums Herz. Ich bedankte mich wiederum sehr, auch vor allem für die Mithilfe, ohne die wäre es nicht gegangen – und wünschte „Guten Appetit“ allen Anwesenden.

Nach dem Verzehr fragten einige Teilnehmer nach den Rezepten, unter anderem auch Olga, die Zeitzeugin aus Kiew. Da bekam Justina eine Menge Zusatzarbeit.

Nachdem ich mich ausgeruht hatte, ging es mit dem „Deutschen Tag“ am Abend weiter mit Volksliedern, die Besonderheiten der deutschen „Bockwurst“ wurden spaßig erläutert, auch die vielen Biersorten in unserem Land kamen nicht zu kurz. Ich hatte Luftballons und ein Puzzle der deutschen Bundesländer zum Wettpuzzeln beigetragen.

Alle Jugendlichen beteiligten sich fröhlich daran; außerdem hatte ich ungefähr 30 kleine Geschenke in Cellophantüten gepackt und Lose vorbereitet – es durften alle Teilnehmer ihr Glück versuchen – so war es insgesamt ein erfolgreicher und gelungener Tag.

Am nächsten Tag machten wir alle gemeinsam einen Ausflug und besuchten ein „Zentrum der ehemaligen Zwangsarbeiter“. Es führte uns in ein historisches Dorf in Richtung Kiew, Perejaslaw. Übrigens nur ungefähr 250 km entfernt von Tschernobyl. Kontakte unterstützt auch leukämiekranke Kinder.

In den Überresten eines ehemaligen Klosters war ein Museum eingerichtet mit Erinnerungsstücken und vielen Fotos der Gepeinigten im „Großen Vaterländischen Krieg“. Es bewegte uns alle sehr, was dort Zeugnis ablegte von dem unendlichen Leid, wie die verbrecherische Diktatur Hitlers, auch mit Hilfe der Kollaborateure im eigenen Land, versuchte, die vermeintlichen Untermenschen auszurotten.

Julia zeigte auf ein Bild und weinte bitterlich, ja, so hat sie gehaust, in so einem Bretterverschlag im Stall lebte sie.

Ein Riesenwandbild zeigte den militärischen Kampf um die Rückeroberung Kiews nach deutscher Eroberung, auch im Vordergrund Reste von Geschützen und anderen plastischen Teilen der Kämpfe. Schaurig war uns zumute. Ich sah Berlin in Trümmern 1945. Nie wieder, nie wieder, schrie es in mir.

Nach den schrecklichen Zeugnissen der Vergangenheit zeigten uns die Ortsansässigen ein Museum der Raumfahrt, eine der historischen Raumkapseln, die Raumfahrtausrüstung der Pioniere und was sonst noch alles mit dem abenteuerlichen Unternehmen zusammenhing – ich war erstaunt über die Offenheit, mit der ein hochrangiger Offizier uns alles erklärte.

Draußen schien die Sonne und erwärmte unsere Seele.

Wir besuchten eine Schule und deren Einrichtungen. Der Direktor führte uns durch die Räume und berichtete von der Historie des gesamten Komplexes. Wald- und Agrarwirtschaft war ein Schwerpunkt der Hochschule. Es wurde gerade im ganzen Haus vor Beginn des neuen Schuljahres renoviert. Ich übergab dem Direktor dann auch von mir eine kleine persönliche Spende dazu.

Obwohl wirklich alles ziemlich im Argen lag, war ein gewisser Stolz zu erkennen über das schon Erreichte, denn ein Raum war mit Bildern von wichtigen, verdienten Persönlichkeiten der Vergangenheit angefüllt. Ich fragte nach Stalin. Welche Rolle er hier gespielt hatte, weil ich ihn nirgends sah – „den mögen wir nicht“ war die Übersetzung des Dolmetschers.

Weiter ging es zu einer wunderschönen Ferienanlage; viele kleine Einzel-Holz-Häuschen am malerischen See gelegen und sehr gepflegt das Ganze.

Die Tische im Hauptrestaurant und auch in den verstreuten Häusern waren für uns mit lauter Köstlichkeiten gedeckt. Landestypisches Essen gab es. Natürlich zuerst ukrainischen Borschtsch, dann in Portionstöpfchen Wareniki mit Kartoffeln, Skwarken und Zwiebeln, sehr fett und deftig und anderes mehr.

Gut gestärkt und entspannt erreichten wir einen historischen Park, in dem das Leben und Arbeiten in der Vergangenheit sichtbar wurden; ich erinnere mich nicht an den Namen des Ortes, für mich war das ein Zauberwald – Geister und Kobolde schienen uns geheimnisvolle Geschichten zu erzählen. Der Spaziergang hat mir gefallen.

Die Jugend wurde von Animateuren zu Wettkämpfen und Spielen angeregt auf einer großen Wiese – und wir Alten haben uns ausgeruht, das Leben und Treiben hätte so auch vor Hunderten von Jahren sein können.

Zurück ins Zentrum des Ortes; die drei Lehrerinnen baten mich, mit ihnen in ein nahegelegenes Café einzukehren, natürlich gerne. Sie verwöhnten mich mit Espresso, Gebäck und Wein. Es wurde teils Englisch kommuniziert, teils durch sonstige Gebärdensprache sehr heiter geradebrecht – man versteht sich schon, wenn man was zu sagen hat.

Vor allen empfand ich die Wärme und offene Zuneigung so wohltuend, so, als würde man sich schon lange kennen und einander vertrauen.

Der Tag war noch lange nicht zu Ende. Wir waren zum Essen geladen. An herrlich gedeckten langen Tafeln waren Speisen und Getränke aufgetischt, wie es in der Ukraine so üblich ist. Bei der herzlich empfundenen Gastlichkeit musste ich mich an meine Heimat in Ostpreußen ganz stark erinnern; so haben wir es dort auch immer gehalten. Es wurde alles geboten, was Küche und Keller hergaben. Überhaupt, auch landschaftlich fühlte ich mich sehr „zu Hause“, wenn wir unterwegs waren.

Mit Julia, der „kleinen Dicken“, wie ich sie für mich nannte, zog ich irgendwann im Verlauf der Zeit Hand in Hand los, um mit ihr in dem „Café“ ein Glas Wein zu trinken. Sie sprach nur ukrainisch, ich deutsch.

Es war lustig, wie wir uns verständigten mit der Bedienung. Wir bestellten anstelle eines Schoppen Weines eine Flasche. Zur Not nehmen wir sie mit in den Bus zur Heimfahrt, dachten wir beide. Wir entdeckten ein Spinnengewebe, in dem die Bewohnerin sehr emsig rabottierte. Diese Vokabel brachte ich ein – und gottlob, dann kamen auch Justina und Eike, sie hatten uns schon vermisst.

So ging die Unterhaltung dann munter weiter, die Biografien von Julia und mir hatten teils ähnliche Merkmale, so das Schicksal Demenz der Ehepartner und anderes mehr.

Der Tag war immer noch nicht zu Ende, die Jugend tanzte im großen Speisesaal nach flotter Musik, Lieder sangen die jugendlichen zwischendurch, und als ein Walzer ertönte, klatschte ich zwei Tanzende ab und griff mir die blonde Leiterin des Ortes, um mit ihr den Walzer zu tanzen – wir drehten und drehten uns in herrlichem Takt, so, dass ich es doch mit der Angst bekam, hinzufliegen.

Aber es ging gut bis zum Ende; Christian, unser freier Journalist aus Hamburg meinte, es hätte schön ausgesehen, wie wir uns gedreht hätten.

Christian Staas war übrigens die ganze Woche über mit dabei, er hat alle Teilnehmer befragt, um irgendwann eine Dokumentation zu erstellen.

Es war immer noch nicht alles zu Ende. Jan Illig, unser Leiter hatte die Idee, mit mir zusammen ein Lied zu singen als kleine Einlage; wir einigten uns auf „Sah ein Knab ein Röslein stehn“. Ich sang die zweite Stimme, erinnerte mich gottlob auch noch an den Text, da Jan mich mitriss.

Die Heimfahrt ging nicht müde und erschöpft zu, nein nein, die einheimische Jugend war angegackert und so aufgedreht, dass ein Volkslied ihrer Heimat das andere jagte, ebenso sang Jan kräftig mit, teils auch solo in russischer Sprache; ich bewunderte ihn.

So ging der Aufenthalt im verwunschenen Wald-Sanatorium seinem Ende zu – von Irina und Kollegen bekam ich noch ein Abschiedsgeschenk, einen wunderschönen Lackteller mit Blumenmotiven ihrer Heimat – und natürlich tauschten wir unsere Adressen aus.

Am 4. August, vormittags, umarmten wir uns alle mit lieben Wünschen, sagten „Auf Wiedersehen“ – wer weiß?

Bei strahlendem Sonnenschein, wie an jedem Tag bisher, bestiegen wir den Bus, der uns nach Kiew, zum Flughafen Borispol brachte.

Auf dem Flughafen angekommen, suchten wir uns einen Platz, um die Zeit bis zum Heimflug nach Berlin zu überbrücken. Ich hatte einen Vorschlag: Wir kaufen uns ein Taxi und erkunden den Basar, der auf der Herfahrt an uns vorbei rauschte, und Justina ergänzte noch: und vielleicht finden wir einen Ort, wo wir Tee aus dem Samowar serviert bekommen.

Gesagt, getan, Herr Richter blieb zurück, auch des Gepäcks wegen – Justina und ich fuhren in einem schicken, weißen Taxi auf Abenteuer davon und versprachen hoch und heilig, rechtzeitig zum Heimflug zu 16.25 Uhr zurück zu sein.

Wie auch schon die ganze Woche über, hatten Justina und ich eine unerklärlich starke Übereinkunft in vieler Hinsicht. Die Chemie stimmte einfach. Und so schlenderten wir mit dem Taxidriver über den Basar, zuerst gezielt nach handwerklicher Webkunst Ausschau haltend und dann plan- und ziellos, nur um die Atmosphäre aufzunehmen.

Ein kleiner Abstecher, in ein hoffentlich landestypisches Restaurant, erfüllte sich nicht so ganz. Es war ein stinknormaler Ort ohne Besonderheit, eher steril. Trotzdem servierte man uns Teigtaschen mit Fleischfüllung und Schmand darüber, in einem Töpfchen gegart.

Das Ganze war nicht besonders herausragend, jedoch füllten wir die Zeit auf diese Weise aus, nicht im überfüllten Abflugterrain des Borispol.

In Berlin-Tegel erwartete mich Tochter Ingrid – wie schön, es tat gut. Der allgemeine Abschied mit Umarmungen war dann der Schlussakt dieser ungewöhnlichen Reise, an die ich mich noch sehr lange hellwach erinnern werde.

Zum Seitenanfang